Kurze Zusammenfassung
Das Video behandelt die Veröffentlichung der Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum in einer kommentierten deutschen Ausgabe. Diese Dokumente geben Einblick in ihr Leben während der NS-Zeit in den Niederlanden und ihre innere Entwicklung. Das Gespräch mit dem Herausgeber Pierre Bühler beleuchtet Hillesums Persönlichkeit, ihre spirituelle Suche und ihr Engagement für verfolgte Juden. Abschließend wird diskutiert, warum Hillesums Werk weniger populär ist als das von Anne Frank und welche Bedeutung es für die Zukunft hat.
- Etty Hillesum war eine junge jüdische Frau, die während der NS-Zeit Tagebücher und Briefe verfasste.
- Ihre Schriften dokumentieren nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch ihre innere Entwicklung und spirituelle Suche.
- Die Gesamtausgabe ihrer Werke in deutscher Sprache ermöglicht es, ihr Leben und Denken umfassend kennenzulernen.
- Hillesums Werk ist weniger populär als das von Anne Frank, bietet aber einen tiefgründigen Einblick in die Zeitgeschichte und die Bedeutung von Werten wie Liebe und Solidarität.
Einleitung
Die Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum wurden in einer kommentierten Ausgabe auf Deutsch veröffentlicht. Diese Ausgabe ermöglicht es, die Gedanken einer jüdischen Frau kennenzulernen, die unter schwierigen Bedingungen eine bemerkenswerte Menschlichkeit bewies. Ihre Aufzeichnungen aus der Zeit von 1941 bis zu ihrer Deportation 1943 in den von Nationalsozialisten besetzten Niederlanden sind in Heften und Briefen festgehalten.
Wer war Etty Hillesum?
Etty Hillesum wurde 1914 in den Niederlanden geboren. Sie studierte Rechtswissenschaften und interessierte sich für slawische Sprachen, insbesondere Russisch. Ein prägender Einfluss war ein Psychologe, der sie ermutigte, ein Tagebuch zu schreiben. Durch das Schreiben setzte sie sich mit ihren jüdischen Wurzeln auseinander und identifizierte sich zunehmend mit dem verfolgten jüdischen Volk. Sie zog in das Transitlager Westerbork, um den deportierten Juden zu helfen, und wurde schließlich selbst nach Auschwitz deportiert, wo sie 1943 im Alter von 29 Jahren starb. Pierre Bühler, der Herausgeber der Gesamtausgabe, entdeckte Hillesums Werk in den 1980er Jahren und war von ihrem Denken und Fühlen tief beeindruckt. Er organisierte 2014 ein Kolloquium zu ihrem 100. Geburtstag und setzte sich für eine umfassende deutsche Ausgabe ein, da es bereits französische, englische und spanische Ausgaben gab.
Etty Hillesums Persönlichkeit und spirituelle Suche
Etty Hillesum war eine faszinierende Persönlichkeit, eine inspirierende Intellektuelle und eine für ihre Zeit erstaunlich moderne junge Frau. Sie strebte nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, verstand dies jedoch nicht als ideologisches, sondern als spirituelles Konzept. Sie wollte Ordnung in ihr Leben bringen und sich mit sich selbst auseinandersetzen. Sie interessierte sich leidenschaftlich für Dichtung, Philosophie und Psychologie, haderte aber auch mit ihrem Elternhaus. Hillesum suchte nach Harmonie mit sich selbst und entwickelte eine Art Mystik oder Spiritualität, die ihr Ruhe geben sollte. Diese Suche führte sie auch dazu, ihre jüdischen Wurzeln zu entdecken und die Stufen der Judenverfolgung bewusst zu erleben, was sie dazu brachte, sich zu engagieren.
Die Bedeutung von Julius Spier
Eine wichtige Rolle in Hillesums Leben spielte ihre Freundschaft mit Julius Spier, ihrem Mentor. Sie bezeichnete den Tag ihrer ersten Begegnung mit ihm als ihren eigentlichen Geburtstag. Spier interpretierte Hände psychologisch und erkannte Hillesums Spannungen und Ambivalenzen. Durch die Zusammenarbeit mit ihm konnte sie an diesen Spannungen arbeiten. Aus der Therapie entwickelte sich ein Arbeitsverhältnis, in dem Hillesum an Spiers Therapiestunden mitarbeitete. Spier, ein Schüler von Carl Gustav Jung, verband Psychologie eng mit Religion, was Hillesum sehr beeinflusste.
Etty Hillesums Schreiben als Lebensbegleitung
Hillesum schrieb 1941, dass sie hoffte, ein langes Leben zu haben und sich eines Tages völlig leer schreiben zu können. Das Schreiben stand im Zentrum ihrer Reflexionen. Sie fand eine poetische Sprache und formulierte ihren inneren Auftrag in einer Vision, in der sie von einer Zelle auf einem Berg zu vielen Menschen sprach. Sie kämpfte mit dem Konflikt zwischen dem Wunsch, andere Menschen zu erreichen, und dem Bewusstsein, dass die Zeit von ihr etwas anderes verlangte, als Dichterin zu sein. Das Schreiben war für sie eine Art Lebensbegleitung und verband sich im Laufe der Zeit immer mehr mit dem Gespräch mit Gott, fast wie ein Gebet. Sie verband das Lesen, Schreiben und Handeln, insbesondere im Durchgangslager Westerbork.
Etty Hillesum als Chronistin ihrer Zeit
Hillesum verstand sich nicht als traditionelle Chronistin. Sie sah ihre Aufgabe nicht darin, Geschichte im herkömmlichen Sinne zu dokumentieren, sondern ihre Botschaft an die Nachwelt war, dass das Leben unter allen Umständen schön sei. In einem Brief aus dem Lager Westerbork schrieb sie, dass alles, was geschieht, bereits in ihr verrechnet und durchlebt sei und sie sich bereits am Aufbau einer Gesellschaft nach dieser hier beteilige.
Die Aktualität von Etty Hillesums Werk
Hillesums Tagebücher sind noch nicht so populär wie die von Anne Frank. Es wird diskutiert, ob die Zeit erst reif werden muss für das, was Hillesum der Gesellschaft zu sagen hat. Ihre Werke müssen neu entdeckt werden, da sie eine große Aktualität besitzen. Ein Grund für die geringere Bekanntheit könnte sein, dass Hillesums Werk einen breiteren Resonanzboden hat, der psychologische, dichterische und philosophische Aspekte umfasst, was den Zugang erschwert. Hillesum dachte bereits im Lager über die Gesellschaft nach dem Krieg nach und sprach von den Grundwerten des Lebens, die man in eine neue Zeit hinüberretten müsse, wie Liebe, Solidarität und Hilfe. Sie war eine Beterin, die sich mit Gott auseinandersetzte und für ihn sorgte.
Schlussfolgerung
Die Tagebücher und Briefe von Etty Hillesum, übersetzt von Christina Siever und Simone Schroth, sind im Claudius Verlag erschienen.