Kurze Zusammenfassung
Der Vortrag untersucht die zwei Hauptwurzeln Europas: das Römische Reich und die christliche Mission. Er analysiert, wie Vergil einen Gründungsmythos für das Römische Reich schuf und wie dieser Mythos die Grundlage für spätere europäische und amerikanische Imperien bildete. Weiterhin wird die Rolle der christlichen Mission bei der Gestaltung Europas beleuchtet, von der Reichskirche über die Volksreligion bis zur Nationalreligion, und wie diese Entwicklung die europäische Identität beeinflusst hat.
- Vergil schuf einen Gründungsmythos für das Römische Reich, der bis heute nachwirkt.
- Die christliche Mission prägte Europa, führte aber auch zu Konflikten und Nationalisierung.
- Europa wird als ein "Club der gedemütigten Imperien" betrachtet, der aus seiner Geschichte lernt.
Soundcheck und Begrüßung
Der Redner beginnt mit einem Soundcheck und scherzt über die Papstwahl in Rom. Er erwähnt, dass der Vatikan festgestellt hat, dass ein päpstlicher Segen auch durch moderne Fernsehtechnik wirksam ist. Anschließend begrüßt Cornel Dora, der Stiftsarchivar, die Anwesenden und freut sich über die große Teilnahme. Er erinnert an Notker den Stammler, dessen Gedenktag gefeiert wird, und erwähnt, dass Anna Welia Vogel die Rede auf Pergament schreibt.
Ausblick auf den Vortrag
Der Redner gibt einen Ausblick auf seinen Vortrag mit dem Titel "Europa als Drama und Vorstellung". Er bezieht sich auf Jakob Burckhardt und dessen "weltgeschichtliche Betrachtungen" und erwähnt, dass er am Collège de France Vorlesungen unter dem Stichwort "Der Kontinent ohne Eigenschaften" gehalten hat. Er plant, über Europa im Grenzbereich zwischen Dramaturgie und Hysterie zu sprechen, wobei er betont, dass die Schweiz traditionell Abstand zu diesen Qualitäten hält.
Europa: Dramaturgie und Hysterie
Der Redner erläutert, dass sich menschliche Szenen ständig dramaturgisch abspielen, aber auch hysterisch werden können. Er erwähnt Nietzsche und dessen Bezug zur Hysterie und betont, dass er in seinen Vorträgen die Formel vermeiden wollte, Europa sei die Einheit in der Vielheit, da diese Formel oft zum Einschlafen führt.
Imperium und Missio
Der Vortrag konzentriert sich auf das dramaturgische Basisskript Europas, das sich aus den Begriffen Imperium und Missio (Ekklesia) zusammensetzt. Imperium bedeutet ursprünglich die Befehlsgewalt des Heerführers, während Missio durch die christliche Terminologie übernommen wurde. Der erste Teil des Vortrags wird unter dem Begriff Translati Imperii (Reichsübertragung) behandelt, der zweite unter dem Titel Missio de Propaganda Fide, was bedeutet, dass die Weltgeschichte seit Christoph Kolumbus als eine Erweiterung der Apostelgeschichte gestaltet werden sollte.
Missio und das vierte Gelübde der Jesuiten
Das Wort Mission ist ein Modernismus, der im 16. Jahrhundert von den Jesuiten eingeführt wurde, um ihre Haupttätigkeit zu charakterisieren. Es taucht als Formel in dem vierten Gelöbnis der Jesuiten auf, das ein Spezialgelöbnis für den Papst ist. Die Jesuiten stellen sich dem Papst als Präzisionsinstrument in den großen Aufgaben der Neuzeit zur Verfügung: im Konfessionskrieg und in der Weltmission.
Bischof Ambrosius gegen Kaiser Theodosius
Der Redner verweist auf einen kritischen Moment der spätantiken Geschichte im Jahr 390, als Bischof Ambrosius Kaiser Theodosius den Zugang zur Kirche verwehrte. Dieser Vorfall wird als Urszene des alteuropäischen Dualismus von Kirche und Reich gesehen. Augustinus entwickelte daraus die Zweireichelehre, die besagt, dass Europäer dazu bestimmt sind, als Diener zweier Herren und Bürger zweier Welten zu existieren, was zu einem antitotalitären Grundzug in der europäischen Rationalität führt.
Jean-Jacques Rousseau und der Totalitarismus
Im Gegensatz dazu wollte Jean-Jacques Rousseau eine Einstimmigkeit im Inneren der Menschen hervorrufen und bedauerte, dass das Christentum die Religion der Europäer sei und nicht der Islam, da er im Islam eine monologische Stimme sah, die die geistige Sphäre monopolisiert. Dies zeigt eine präfaschistische, totalitäre Komponente bei Rousseau.
Ausblick auf die zwei Teile: Imperium und Mission
Der Redner kündigt an, dass er in zwei Abschnitten sprechen wird: zuerst über die Translati Imperii und dann über das Problem der Mission.
Gründungsmythos von Europa: Die Aeneis
Da die meisten Menschen kaum noch Kenntnis von den alten Dramen haben, erinnert der Redner an die antike Vorgeschichte moderner Verlegenheiten. Er wird ein Kapitel europäischer Mythodynamik in Erinnerung rufen, das erklärt, warum das Hineinwachsen in das neue transnationale politische Großformat namens Europäische Union trotz aller Komplikationen eine bewältigbare Aufgabe darstellt.
Vergils Bedeutung für das Imperium Roms
Vergil stand vor der Verlegenheit, seinen Landsleuten etwas Neues und Gemeinsamkeit erzeugendes vor Augen zu stellen. Damals gab es bereits ein ratloses Großkollektiv namens Imperium Romanum, das das gesamte Mittelmeer umfasste. Vergil lieferte den Römern ihren Mythos und zugleich den späteren Europäern.
Die Geschichte von Aeneis
Vergil berichtet die Geschichte von Aeneis, dem trojanischen Fürstensohn, der aus dem Osten kommt und ein Reich im Westen ins Leben ruft, indem er die spätere Gründung Roms vorbereitet. Der erste Europäer war ein Verlierer, ein Mann aus dem Nahen Osten, der eine brennende Stadt im Rücken hat, als er den Kurs nach Westen wählt, um ein neues Leben zu beginnen.
Verherrlichung des Augustus
Das Epos ist eine Verherrlichung der Herrschaft des Augustus und stiftet Sinn, wo bisher nur Gewalt war. Der Staat darf nie nackt über die Straße laufen; nur begleitete Gewalt ist Zivilisation. Nimmt man die Gerechtigkeit weg, was sind dann die großen Reiche anders als große Räuberhöhlen?
Vater, Kind und Hausgötter
Aeneis wandert mit seinem Vater auf dem Rücken, seinem Kind an der Hand und den Penaten (Hausgöttern) ein. Dies ist Qualitätseinwanderung, ein genealogisches Molekül über drei Generationen, das die Elementarform eines neuen Volkes bilden kann. Er muss bei der Einwanderung gute Geister dabei haben, die Penaten, die Glücksgötter der Römer.
Kurs nach Westen
Aeneis wählt den Kurs nach Westen, die Grundrichtung, die Europäer bevorzugen, wenn sie in die offene Welt aufbrechen, in den Okzident. Europa, vertreten durch das italische Lazium, wird von Vergil als ein Territorium präsentiert, in dem sich ein Flüchtling und Suchender psychopolitisch reorganisiert. Europas Gründungsmythos ist der Mythos der zweiten Chance.
Das wirkliche Europa in den Vereinigten Staaten
Das wirkliche Europa von heute ist in den Vereinigten Staaten von Amerika zu suchen, da die Amerikaner den europäischen Gründungsmythos besser verstanden haben als die Europäer selbst. Sie haben das Europa der zweiten Chance über den Atlantik transferiert und dort das Land geschaffen, für das der Mythos der zweiten Chance grundlegend ist.
Reichsbildungen auf römischen Spuren in Europa
Seit dem späten 19. Jahrhundert wurde die Übertragung des römischen Reiches über den Atlantik aktuell und sichtbar. In dem Jahrtausend zuvor erzeugten Reichsbildungen auf römischen Spuren eine Vielzahl von politischen Projekten. Europa heute stellt nichts anderes dar als einen Club aus gedemütigten Imperien.
12 aufgegebene Imperien
Der Redner listet 12 gescheiterte oder aufgegebene Imperien auf: Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien, Holland, Großbritannien, Deutschland, die K.u.K.-Monarchie, Italien, Dänemark und Schweden. Die Nationalstaaten entstanden als Nationalimperien, und die Könige begannen, ihre eigenen Länder zu erobern.
Europa heute in postkolonialer Struktur
Das aktuelle Europa ist ein neues Gebilde, das nur durch seine dezidiert postimperiale und antiimperiale Struktur verstanden werden kann. Nach der Doppelkatastrophe von 1914 bis 1945 hat es die Lektion der zweiten Chance erneut gelernt.
Europa als christliches Projekt
Europa hat sich vom vierten Jahrhundert an als das privilegierte Feld der christlichen Glaubensausbreitung ausgezeichnet. Durch die Erhebung des Christentums zur Staatsreligion wurde die Freiwerbung für den Glauben durch den politischen Zwang ergänzt.
Bindung an Nation wichtiger als Bindung an Christentum
In der Neuzeit wurde das Christentum zur Nationalreligion, und die Bindung an die Nation wurde intensiver als die ekklesiale Grundformation. Das ist das eigentliche europäische Drama, dass der Versuch, uns in dem christlichen Universalhorizont zu sozialisieren, gescheitert ist.
Christentum wird durch die Aufklärung ersetzt
Das Christentum wurde durch die Aufklärung ersetzt, und die Bergpredigt wurde in die Lehre von den Menschenrechten kondensiert. Christen überleben durch Anonymisierung oder gar nicht.
Gott Israel als Übergrosskönig
Der Gott Israels erschien als ein jenseitiger Überkönig, der die Pharaonen, babylonischen Fürsten und den persischen Großkönig von oben herabschaut und sie als Schachfiguren in seinem Great Game verwendet.
Woher das Übel? Woher das Gute?
Boezius stellte die Frage: Gibt es einen Gott? Woher kommt dann das Übel? Augustins Antwort war, dass die Menschen dicht und Trachten böse von Jugend auf sind, denn der Mensch erbsündig geboren steht unter dem schlechten Einfluss der gefallenen Engel. Gottfried Benn fragte, woher das Gute kommt.
Nationalisierung der Christentümer seit der Reformation
Es war nicht so sehr die Allianz von Thron und Altar, die das Projekt der universalen Christianisierung sabotierte, sondern die nahezu schamlose Nationalisierung der Christentümer.
Wo blieb Weltüberwindung, Wiederkunft und Gericht?
Die frühe christliche Botschaft hatte von Weltüberwindung gesprochen, von dem unendlich gewinnbringenden Tausch des Irdischen gegen das ewige Leben. Man träumte von der baldigen Wiederkehr des Herrn in Herrlichkeit und von dem unausweichlichen Gericht über Tote und Lebende.
Weltflucht nach vorne
Der richtige Name für den Modus, wie wir in einer Welt ohne Wüste und Kloster leben, ist Weltflucht nach vorne.
Media vita in morte sumus
Man schreibt dem Mönch Notker einen Hymnus zu, in dem die Zeile "Media vita in morte sumus" erklingt. Wer spürt, dass das Schiff einen Augenblick lang festliegt, hört neuartige Fragen.
Dank durch Stiftsbibliothekar Cornel Dora
Cornel Dora dankt dem Redner für seine Rede und wünscht allen einen schönen Abend.