Isabella Bruckner: Die Tagebücher der Etty Hillesum

Isabella Bruckner: Die Tagebücher der Etty Hillesum

Kurze Zusammenfassung

Dieser Text bietet eine Einführung in das Leben und die spirituelle Entwicklung von Etty Hillesum, einer jüdischen Frau, die während des Holocausts im Konzentrationslager Auschwitz ums Leben kam. Der Vortrag beleuchtet Hillesums Biografie, ihre philosophischen und literarischen Interessen, ihre Beziehung zu Julius Spier und die Entwicklung ihres Gebetslebens. Abschließend werden zentrale Aspekte ihres spirituellen Weges und ihre Bedeutung als Begleiterin für Menschen, die heute mit dem Beten beginnen möchten, hervorgehoben.

  • Etty Hillesums Leben und tragischer Tod im Holocaust
  • Ihre spirituelle Entwicklung und ihr Gebetsleben
  • Die Bedeutung von Stille, Einkehr und Körperlichkeit im Gebet
  • Hillesums Verständnis von Gottes Allmacht und der Notwendigkeit, selbst zu handeln
  • Ihre Hoffnung auf eine neue, humanere Zeit und ihr Wunsch, Zeugnis von Menschlichkeit abzulegen

Biografische Einführung

Etty Hillesum, jüdischer Abstammung, wurde 1914 in den Niederlanden geboren und starb 1943 im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau. Sie stammte aus einer assimilierten jüdischen Familie ohne starke religiöse Prägung. Ihre Brüder waren Jakob und Mischa, wobei Mischa ein musikalisch hochbegabter Pianist war. Die gesamte Familie starb in Konzentrationslagern. Jakob stand Hillesums mystischer und religiöser Entwicklung skeptisch gegenüber. Hillesum hatte ein nicht immer harmonisches Verhältnis zu ihrer Mutter Rebecca. Sie absolvierte ein Doktoratsstudium in Jura, interessierte sich aber mehr für Philosophie, Literatur und russische Literatur.

Literarische und Philosophische Einflüsse

Hillesum interessierte sich stark für Philosophie, insbesondere für russische Literatur wie Dostojewski und Tolstoi. Sie setzte sich intensiv mit Poesie auseinander, besonders Rilke, dessen "Stundenbuch" Anklänge an monastische Traditionen aufweist. Ihre eigenen Texte oszillieren zwischen Tagebuch und Gebet. Sie war lebenslustig und bejahte das Leben bis zum Schluss, was sich in Freundschaften und Liebschaften zeigte. Sie rang jedoch mit dem Umgang mit dem Eros und suchte einen neuen Umgang damit. Ein Zitat von ihr lautet: "Es ist mühsam, mit Gott und mit deinem Unterleib auf gleich gutem Fuß zu stehen."

Begegnung mit Julius Spier

Entscheidend für Hillesum war die Begegnung mit Julius Spier, einem aus Deutschland stammenden Therapeuten, der Psychotherapie mit Körpertherapie verband. Spier wurde ihr Freund, geistiger Lehrer und Liebhaber. Er regte sie zur Selbstverantwortung an, förderte ihre Bibellektüre und brachte sie zum Tagebuchschreiben. Spier starb 1942, was für Hillesum ein großer Verlust war, aber seine Impulse halfen ihr, diesen Verlust zu verarbeiten.

Hillesums Zeit im Durchgangslager Westerbork

Am 5. Juni 1943 wurde Hillesum ins Durchgangslager Westerbork geschickt. Zuvor war sie im Jüdischen Rat aktiv, der von den Nazis gegründet wurde. Sie durchschaute jedoch die ambivalente Situation des Rates und verließ ihn. Hillesum schmuggelte Material ins und aus dem Lager. Ihre elf Tagebücher, die ihren geistlichen Weg widerspiegeln, übergab sie einer Freundin zur Aufbewahrung mit der Idee einer möglichen Veröffentlichung. Sie wollte Chronistin dieser Zeit sein und Zeugnis von Grausamkeit, aber auch von Menschlichkeit ablegen.

Veröffentlichung und Rezeption der Tagebücher

Hillesums Tagebücher umfassen einen Zeitraum von zwei Jahren und wurden erst 1980/81 auf Niederländisch veröffentlicht. Die holländische Freundin übergab die Bücher einem Verleger, der jedoch lange keinen Verlag fand. Erst 1981 wurden Auszüge veröffentlicht und in 14 Sprachen übersetzt. 2023 erschien die Gesamtausgabe auf Deutsch unter dem Titel "Ich will die Chronistin dieser Zeit werden". Seitdem erfährt Hillesum auch im deutschsprachigen Raum eine größere Rezeption. Ihre Tagebücher können aus verschiedenen Perspektiven gelesen werden: literarisch, psychologisch, historisch oder als Zeugnis eines Glaubensweges.

Sekuläre Mystik und Postsekularität

Hillesum wird als Beispiel einer "sekulären Mystik" betrachtet, ein Begriff, der von Jürgen Habermas geprägt wurde. Sie hatte keine religiöse Prägung, fand aber durch eine zufällige Begegnung zu einem spirituellen Erbe zurück. Ihre individuelle Praxis und Lektüre zeigen einen synkretistischen Individualismus, der heute Standard ist. Ihre Hinwendung führte zu einer Vertiefung der Lebensfreude und der Liebe zu anderen.

Initiation und Meditation

Hillesum begann ihren spirituellen Weg mit Meditation, um Stille und Einkehr zu finden. Ohne religiöse Vorgaben suchte sie die Unterbrechung und Versenkung. Sie formulierte ihr persönliches Credo und gründete es auf der Erfahrung eines Mangels. Ihr fehlte Einkehr und Ruhe, was ein Bedürfnis vieler heutiger Zeitgenossen widerspiegelt. Sie erhoffte sich eine innere Weitung und die Erfahrung einer Liebe, die in der alltäglichen Praxis anwendbar ist.

Die Klosterzelle des Gebets

Hillesum verband die Erfahrung der Weite mit Gott und Liebe. Sie suchte das Hören nach dem, was in ihr ist, um allen Stimmen Raum zu geben. Meditation und Gebet wurden zu einer Geste der Gastfreundschaft sich selbst gegenüber. Sie zog das Gebet wie eine schützende Mauer um sich herum und kehrte gesammelter und stärker wieder hinaus. Die innere Konzentration errichtete hohe Mauern, in denen sie sich wiederfand.

Körperlichkeit und Gebet

Hillesums Suche nach dem Gebet entsprang zuerst einer Geste, dem Knien. Sie übte sich im Knien, das für sie eine Geste der Intimität war, vergleichbar mit der Gebärde der Liebe. Ihr Körper ging dieser Geste voraus, bevor sie bewusst entschied, sich hinzuknien. Das Knien war für sie keine Unterwerfung, sondern eine Hingabe und ein Vertrauen.

Gottes Allmacht und die Hilfe des Menschen

Hillesum erkannte, dass Gott uns nicht helfen kann, sondern dass wir ihm helfen müssen, wodurch wir uns selbst helfen. Sie wollte ein kleines Stück von Gott in uns selbst und in den Herzen anderer Menschen zutage fördern. Sie sprach in Intimität zu ihrem Gott und vertraute sich ihm in ihrer Hilflosigkeit an. Sie erkannte gleichzeitig aber auch die Ohnmacht, die Allmacht Gottes, die an der Freiheit des anderen Halt macht.

Compassio und Erinnerung

Hillesum suchte die Solidarität mit ihrem Volk und wollte bei ihren Leuten sein. Sie hätte fliehen können, entschied sich aber bewusst für die Compassio bis in den Tod hinein. Sie versuchte, Gutes zu tun und den Menschen beizustehen. Sie wollte die Menschlichkeit, die sie trotz allem erlebte, in ein neues Zeitalter hinüberretten. Sie wollte eine Zeugin der Freundlichkeit, der Liebe und der Menschlichkeit sein.

Grenzen der Compassio und die Rätsel Gottes

Hillesum kam in ihrer Compassio an ihre Grenzen. Sie spürte, wie viel Schönes und Schweres sie zu tragen hatte. Sie liebte die Menschen, weil sie in jedem Menschen ein Stück von Gott liebte. Sie versuchte, Gott in den Herzen anderer Menschen zu erwecken. Sie stellte sich den Rätseln Gottes und wusste, dass es keine Antwort gibt. Sie musste diese Rätsel ertragen können.

Das eine Wort und die innere Ruhe

Hillesum konnte sich nicht dazu entschließen, mit dem Schreiben aufzuhören. Sie wollte noch im letzten Augenblick die einmalige, erlösende Formel finden für alles, was in ihr ist. Sie wartete geduldig, bis die Worte in ihr herangewachsen sind, mit denen sie alles bezeugen kann. Sie fand zu ihrem Gott und zu der Versenkung, der Stille und dem In-sich-selbst-Ruhen, das ihrer ganzen Welt eine größere Tiefe verlieh. Sie ruhte in sich selbst und nannte dieses Selbst, das allertiefste und allerreichste in ihr, Gott.

Share

Summarize Anything ! Download Summ App

Download on the Apple Store
© 2024 Summ